Hungerzeiten

Drucken

Hungerzeiten
"Ach gebt mir halt ein Stückchen Brot"
(Erster Weltkrieg und Inflation 1914-23)


Hungernde am Tor eines Gutshofes

Die Menschen in Deutschland und auch teilweise in unserem oberfränkischen Raum blieben von Hunger und Not nicht verschont. Schuld daran waren aber nicht erntefeindliche Witterungsverhältnisse, sondern die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts.

Hinsichtlich des Ersten Weltkrieges (1914-1918) ist bekannt, dass die deutsche Heeresführung hier mit einem raschen Offensivfortschritt und einem "kurzen" Krieg gerechnet hatte. Große Vorratslager waren nicht angelegt worden. Als sich der Krieg aber dann nach 1915 in die Länge zog und vor allem die englische "Hungerblockade" zu wirken begann, zeigten sich vor allem zuerst in den großen Städten erste Anzeichen von beginnender Versorgungs- und im Gefolge dazu Hungersnot. Sie nahm zu gegen Ende des Krieges und dauerte an bis über die Inflationszeit hinaus - allerdings mit regional unterschiedlichen Auswirkungen.


Lebensmittelkarten, 1. Weltkrieg

Der Verfasser weiß noch aus Erzählungen seiner Urgroßmutter, die ein Kolonialwarengeschäft betrieb, dass schon 1917 der Mangel an Mehl, Fleisch, Fett und anderen Lebensmitteln so groß war, dass das von Kriegsjahr zu Kriegsjahr zunehmend geringere Quantum an offiziell zugeteilten Lebensmitteln, das auf den vom Staat ausgegebenen Rationierungs- und Lebensmittelkarten für den einzelnen vorgesehen und ausgedruckt war, nicht mehr an die Kundschaft verkauft werden konnte, weil es einfach nicht mehr beziehbar - d. h. vorhanden - war.

Bald standen Kinder aus den nahen Arbeitergemeinden und der Stadt vor den Haustüren der Bauern mit der Bitte: "Ach gebt uns halt ein Stückchen Brot". Und der Hungrigen wurden von Tag zu Tag mehr. Die Sterblichkeit unter der Bevölkerung nahm zu, vor allem bei Kindern. Da die Landbevölkerung weitaus weniger unter der Hungerblockade litt, macht sich in den Städten eine zunehmende Verbitterung breit. Schwarzhändler verschoben Lebensmittel zu Wucherpreisen. Einzelne Kriegsgewinnler wurden schnell reich, während die Masse des Volkes hungerte. Frierend saß man am Abend zu Hause. Es gab keine Kohlen. Die Schulen mussten zeitweise geschlossen werden, da kein Brennstoff für die Heizung zur Verfügung stand. Vielfach waren sie in Lazarette umgewandelt worden.

Es litten vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten in den Städten, besonders kinderreiche Familien, bei denen die Männer im Felde standen. Die gezahlten Unterstützungen waren zu gering, um damit bei den zunehmenden (Wucher)-Preisen mithalten zu können. Dazu kommt, dass die Bauern immer weniger Milch und Butter, Getreide und andere Feldfrüchte ablieferten.

Das sogenannte "Hamstern" nimmt zu; die Städter tauschen Besitzstände gegen Lebensmittel. Die Polizei wird angehalten, scharf gegen den "Lebensmittelhamster" vorzugehen. Endlich November 1918, als die Not, Hungern und Entbehrung auf Höchste gestiegen waren, kam der ersehnte, wenn auch schwere Friede.

Bei Kriegsende aber verschärfte sich die Situation noch deutlich:
Durch die zunehmende Geldentwertung stiegen die Preise ins Unermeßliche. Aus hiesigen Berichten der damaligen Zeit geht hervor, dass vor allem nicht nur die armen, meist großen Familien in große Not gerieten und zunehmend Hunger litten, sondern auch einst wohlhabende Mittelstandsfamilien und vor allem Alte mit zunehmenden Geldverfall bald bittere Not litten. Denn das oft mühsam für das Alter ersparte Geld wurde von Tag zu Tag weniger wert. So wurden von diesen Betroffenen Schmuck und sonstige Wertgüter verkauft, um sich den Unterhalt zu gewährleisten.

(1919) "Die Leute haben andere Sorgen als sich vermehrt um die laufenden politischen Vorgänge zu kümmern. Lebensmittelknappheit, Kohlenknappheit, steigende Preise Arbeitslosigkeit stehen im Mittelpunkt der Tagesgespräche". Nicht die Besitzenden und Vermögenden tragen die Lasten dieser verheerenden Inflation, sondern die Arbeiter und der Mittelstand. Als "größte Räuberei der Weltgeschichte" brandmarkt Arthur Rosenberg dieses einschneidende Erlebnis, das vielen Familien sämtliche Rücklagen und Ersparnisse nimmt und das letzte bißchen Vertrauen und Hoffnung in den neuen Staat zutiefst erschüttert. (Grube/Richter, Die Weimarer Republik, Hamburg 1983, S. 63)


Inflationsgeld

1923 nahm der Prozeß der Geldentwertung so groteske Formen an, dass niemand mehr Bargeld zu behalten wagte, weil es eine Stunde später schon wertlos sein konnte. So weiß ich von Erzählungen meiner Urgroßmutter, dass man als Kaufmann das im Laufe des Tages eingenommene Geld noch gleichen Tags in Ware umsetzen musste, um zu vermeiden, dass es am nächsten Tag nahezu wertlos war.

Und die Zahl der um Brot bettelnden, durch die Bauerndörfer ziehenden Kinder nahm zu - ein Bild des Jammers. In den größeren Städten aber war Sterben an Unterernährung keineswegs eine große Seltenheit mehr. Der Lebensstandard sank rapide, viele Menschen waren unterernährt. Die Arbeitslosigkeit stieg auf 28 Prozent. Auch die Löhne und Gehälter der Arbeiter konnten der Entwertung nicht standhalten. Im Juni 1923 brachte ein gut verdienender Handwerker rund 185.000 Mark Wochenlohn nach Hause - rund 100.000 Mark weniger, als eine vierköpfige Familie zum Leben brauchte. Am Zahltag wurde das Geld mit Wäschekörben in die Firma geschleppt. Arbeiter gaben ihren Lohn so schnell wie möglich aus, um im Wettlauf mit der Zeit nichts zu verlieren.

Auf dem Höhepunkt der Inflation kostete ein Brötchen 20 Milliarden, eine Zeitung 50 Milliarden Mark. Der Lohngeldtransport selbst kleiner Firmen kann nur mit täglichen Lieferungen in Wäschekörben aufrechterhalten werden. Wer als Lohnabhängiger in einem der zahlreichen Hinterhöfe sein Leben fristet, ist am schlechtesten dran: Das Arbeitsentgelt ist am nächsten Tag nur noch ein Trinkgeld wert, der Kampf um Lohnerhöhungen verpufft, weil die Zahl der Arbeitslosen rapide ansteigt.

Während Millionen- und Milliarden-Banknoten keine Seltenheit waren und während im November 1923 ein Fernbrief 10 Millionen Mark Porto, 1 Stück Butter 2,4 Milliarden Mark kostet, schwanden Schulden und Vermögen: Hier blieb Mark gleich Mark. Schulden des Reiches und Kreditschulden der Industrie lösten sich auf, gleichzeitig aber auch die Sparguthaben und die Hypotheken. Am härtesten betroffen war die bürgerliche Mittelschicht. Scheinbar sicher angelegtes Geld wurde wertlos, Vermögen gingen verloren. Das blieb für die politische Einstellung der Betroffenen nicht folgenlos.

Erst die Einführung der Rentenmark und das allmähliche Besinnen des deutschen Volkes auf eigene neue Kraft zum Schaffen von Arbeit und Brot führten ab 1924 zu einer allmählichen Verbesserung. Allein die entstandenen Hungerschäden vor allem an Kindern vermag nichts mehr zu verbessern. Erst mit der Einführung der Rentenmark am 16. November 1923 schöpften die verarmten Menschen wieder Vertrauen in den Wert des Geldes. Das "Wunder der Rentenmark" war der erste Schritt zu stabilen Währungsverhältnissen im Deutschen Reich.

Am 15. Oktober 1923 unterschrieben Reichskanzler Gustav Stresemann und Reichsernährungsminister Hans Luther die Verordnung über die Errichtung der Deutschen Rentenmark. Genau einen Monat später legte Reichswährungskommisar Hjalmar Schacht die rund 2000 Notenpressen still. Der Kurs der neuen Währung wurde auf 4,2 Billionen Mark zu einer Rentenmark festgesetzt.

Quellenhinweis: Gustav Schmidt